Survival

Salzige Krusten

aus Blut und Tränen

meiner Seele

wettergegerbt

ließen mich oft stöhnen

unter den Lasten des Lebens.

Glühendes Stahl

gebohrt in das weiche, offene, warme Herz.

Es ist genug,

ich bin roh und müde geworden,

das Leben hat mich oft genug seine Peitsche spüren lassen

unter den Augen so vieler ignoranter Menschen,

die mich so nett und harmlos fanden.

Ist es nicht klar,

dass jeder Mensch sich einmal aufbäumen wird,

sei es nur um

jeden Tag in sein Spiegelbild schauen zu können?

Ist es nicht klar, dass jeder es einmal satt hat, unterschätzt zu werden?

Ich gehe weiter,

in die Schneewüste,

in die Glutprärie,

in die unendliche Einsamkeit.

Mein Leben ist längst ein Überleben geworden.

Selbst im Überleben finden sich Wunder in der Natur,

aber Menschliches ist mir zuwider und Tiere zu fremd.

Ich überlebe mein Leben so lange es geht.

Die Lügen der Liebe habe ich abgestriffen,

ich gehe… gehe… bis ich eines Tages sterben werde.

Nicht ohne ein Lächeln hier und da, aber mir bewusst,

das viele Versprechen hier nur Seifenblasen sind.

Affenspiele der Liebe

Als junger Mann sah ich
in vielen Frauen,
die mit funkelnden Augen
und langen Haaren
auf hohen Hacken
an mir vorbei stolzierten
die Eine, die Prinzessin,
die ich erobern muss.

Nicht mehr ganz jung
sehe ich heute die Herzen
hinter den groß geschminkten Augen,
dem Lippgloss und den wallenden,
hochgesteckten Haaren.

Gelassener kann ich nun beobachten
wie die Frauen sich in Schale werfen
und die Männer sich wie Affen zum Clown machen,
nur um endlich „erhöhrt“ zu werden.

Ich beobachte die Machtspiele,
in denen schon früh das Elend
des Untergangs festgelegt wird.

Ich erkenne noch etwas anderes:
Das mein Herz fest und aufrichtig daran glaubt,
dass Du, die Du auch in die Herzen sehen kannst,
die Du – wie schön Du auch sein magst – ein wenig
über den affigen Spielereien stehst, so dass  so ein Spiel
Spaß macht und die tiefste Befriedigung darin erwächst,
Hand in Hand dem Leben zu trotzen
und es zu genießen,
weil wir sind wie wir sind und es nicht mehr nötig haben
zu zeigen, wer wir nie waren.

Zu spät! Ein Gedicht

Ein gelber Schmetterling

umkreist bunte Blumen,

bezaubert den Anblick

der alten Leute.

 

Die Jugend ist wie ein gepflückter Strauß Rosen.

So wunderschön und doch schon am sterben.

Es gab sie, die Menschen, die rechtzeitig zugriffen,

wenn der Hauch des Glücks wie ein Bienenschwarm an ihnen vorbei flog.

 

Sie schmissen sich in das Leben

wie ein Trunkener in die Wellen

und wie bei Narren üblich, so war es auch nicht an ihnen

daran zugrunde zu gehen.

 

Ich sehe sie vor mir:

Lachende, dicke Frauen und Männer,

die sich in die Wellen schmeißen,

rücklings.

 

„Hey, komm doch auch in die Wellen!“

 

Ich will nicht sagen,

dass ich es nie gewagt hätte,

den Strand wenigstens einen Fuß lang zu verabschieden…

Ich will nicht sagen,

dass ich nie gerne eingetaucht wäre in die Fluten des überschäumenden Lebens,

ohne es je zu tun…

 

So wie manche so reden, muss es ein tolles Ding sein.

Sie reden von Mädchen, den roten, blonden, braunen, schwarzen

und wie sie geküsst hätten

während ich am Rand stand und zusah,

neidisch und hungrig.

 

Das ist der Unterschied: Sie gingen frech in das Leben hinein,

„wo steht das Klavier“,

ich zögerte – und bekam eine Ohrfeige von ihr und vom Leben und überhaupt.

Meine Lektion blieb

das es schmerzt zu leben.

„Tut es auch“, rufen da die Dicken von den Wellen her.

 

Ich verstehe zu spät.

 

Und der Schmetterling, der lag auf dem Boden

als ich abends heimkehrte.

Ich überlegte, ihn mitzunehmen

für das Album…

Der Junge und die Frau

 

Die dunkelhäutige Frau saß neben dem dunkelhäutigen Jungen auf einer Bank in der Straßenbahn. Ihre in Furchen gelegte Stirn sprach von kühler Betrübnis, von enttäuschter Ernüchterung, von zerstörten Träumen. Jeder Atemzug erinnerte sie quälend daran, zu leben. Jeder Herzschlag ihres warmen Herzens war wie der Hammer eines Schmiedes, der irgendetwas furchtbares schmiedete, um sie von innen heraus zu martern.

Sie war hübsch anzusehen. Ordentlich gebügelte, farbenfrohe Wäsche, die akkurat ihren Körper umhüllte und den Eindruck vermittelte, sie sei perfekt. Auch der Junge wirkte so. Seine lustige Mütze, die Augen trug, was so aussah als hätte er irgendwie einen zweiten Kopf, das fröhliche orangene T-Shirt, die kurzen blauen Hosen, das alles wirkte so normal.

Wären da auch fröhliche Augen gewesen. Seine Augen waren matt. Sein Körper mochte noch so jung sein – und er war sicher nicht älter als 9 – aber seine Augen wirkte wie die eines alten Mannes, so müde des immer wieder kehrenden schlechten Lebens. Täglich packte seine Mutter ihn unerwartet am Ohr, drehte es, geschickt so, dass es niemand sehen konnte, es „unter ihnen blieb“ und unendlich schmerzte. Dann zischelte sie fiese Gemeinheiten in sein kleines Ohr, direkt in seine müde Seele.

Die Ursache mochte ein verspäteter Zug, eine sauer gewordene Milch oder ein auf dem Boden zerscheltes, alter Senfglas sein, welches sie als Trinkglas verwendeten. Selbst wenn er einen Tag lang keinen Fehler beging und auch der Tag seine Mutter wie geschmiert lief, fiel es ihr oft ein, ihm dennoch all ihre Kälte und ihre Abscheu zu zeigen. Jeden Tag fühlte er sich schuldiger.

Seine Augen fielen, vom regelmässigen Rattern der Bahn, von der schwülen Hitze und seiner unendlichen Müdigkeit, zu. Nur einen Moment, sagte er sich. Sie wird es sowieso nicht merken. In der Tat igrnorierte sie ihn die ganze Zeit und wenn ihre Hautfarbe sie nicht unzertrennlich verbunden hätte, dann hätte man meinen können, dass sie gar nichts miteinander zu tun hatten.

Er sah seine Mutter und sich auf einer grünen Wiese. Sie lachte und legte sich auf eine ausgebreitete Decke, auf der sie auch Wassermelonen, Äpfel, Kiwi und Datteln gelegt hatte. In einem Gefäss voller geschlagenem Eis lagen mehrere Dosen Limonade. Er erinnerte sich an seinen Vater. So stattlich sah er aus. In allem was sein Vater und seine Mutter taten, spürte er die Liebe seiner Eltern. Der Vater spielte ihm den Ball zu. „Los, nimm ihn auf! Ja, genau so!“ rief er.

Gewitterwolken zogen über die grüne Wiese.

Seine Mutter stand am Küchenfenster, welches von träge dahin fließenden Regentropfen gesprenkelt war. Es donnerte. Seine Mutter hielt einen Brief in ihrer Hand und weinte.

„Jeden Tag, wenn ich dich sehe, erinnerst du mich an deinen Vater!“ spie sie ihm einmal ins Ohr. Es war kein liebevoller Gedanke, es war ein Vorwurf, der schwerer wiegen sollte, schwerer als Blei. Und er war schwer.

Das konnte man dem Jungen nun auch gut ansehen, wie er da mit gesenktem Haupt und geschlossenen Augen müde auf dem Sitz saß. Doch wo war seine Mutter geblieben? Da kam sie von der Tür her und stieß mit ihrer Faust gegen seine Schulter. Kein Wort, nur ein strafender Blick, weil er seinem Vater ja so ähnlich war.

Mutter und Sohn strömten mit einer Masse von Menschen hinaus in die anonyme Stadt, in der es stets zu laut war, um ein leises Kinderweinen zu hören.

Echt abgefahrenes fast Gedicht inklusive Fehlern

Guten Morgen, ich steh auf, du weißt nicht

ich weiß nicht

haben alle keinen Plan

wir wissen ganz genau das, was man uns erzählt

und was wir meinen, es läuft so viel schief, das ist egal,

ich gehe heute abend schlafen, morgen früh da stehe ich auf,

ich seh die frau im kurzen kleid, denk daran, ob sie mich und ich

doch nein es geht weiter, menschen schreiten in massen,

der bahnhof quillt über und weiter weiter weiter

Gequält von den vielen Informationen, denen wir nicht vertrauen,

es heißt nehmt mehr, immer mehr immer mehr,

verzehrt euch nach den neuen waren, kauft kauft kauft!

Abgelenkt und beruhigt doch mal die demonstranten oder die, die ihnen zusehen,

tut als sei das ganz normal, aussitzen bloß nicht drauf schauen.

Waffen liefern in andere länder die großstelltaste am anfang eines satzes klein setzen.

Ich weiß nichts, ihr auch nicht, wir stehen und gehen wir laufen und springen, humpeln und

der arzt sieht dir in den rachen, sag AAAAAAAAAhhhhhhhhhh.

Es ist schon so, es ist schon so.

Es ist schon so, es ist schon so.

Es ist schon so, es ist schon so.

Punkt, weil ein Punkt daher gehört, nun klage nicht, kleine Blume, du wirst eh sterben.

Punkt, weil ein Punkt hierhin gehört, weil es nicht so weiter geht.

Irgendwann ist mal

Schluß.

Vertrauen

Manchmal bedeutet Leben den Mut aufzubringen,
Schritte ins Leere zu setzen,
einfach, weil man glaubt.

1

Die Frau stand dort und lächelte. Es war ein sonniger Tag. Die Wellen ergossen sich im Atem der See über den Strand. Ihr Schal schlingerte im leichten Wind. Es war ein blass – blauer Seidenschal. Sie trug eine Sonnenbrille. Alles wirkte so natürlich.

Der Fotograf rief: „Ja, noch mehr lächeln, denke an etwas schönes! Gut so. Ja, perfekt, jetzt noch etwas von der Seite!“

Die Frau setzte ihre Sonnebrille ab. Die Fotosession war vorüber. Die Falten zeigten ihre Erschöpfung. Sie lies sich auf den Sand fallen. Ilona, eine kleine dicke Frau in einem viel zu engen lila-farbenen Kleid, kam zu ihr. Ilona hatte das Down-Syndrom. Sie war ihre Tochter. „Dir fehlt etwas!“ sagte sie. „Du bist unglücklich!“ Dabei streichelte sie den Arm ihrer Mutter. Jetzt lächelte die Frau wirklich. Eine Träne rollte über ihre Wange als sie Ilona ansah.

„Du bist wunderbar.“ sagte sie zu ihrer behinderten Tochter, die zurück lächelte.

Der Fotograf kam auf die Frau mit der Sonnenbrille zu. Er trug einen schwarzen Vollbart und lange Haare. Sein Körper war schlank, wenn auch nur etwas durchtrainiert.

„Hier ein erster Druck. Das wird natürlich besser, wenn ich es bearbeitet habe.“

Die Frau nahm die Fotos in ihre Hände und sah sie desinteressiert an. Eines jedoch erfeute. Ilona hatte sich auf dem Bild im Hintergrund verirrt.

„Oh, sorry, das kommt natürlich weg.“ meinte der Fotograf.

„Kann ich es behalten?“ fragte die Frau und es schwang ein tiefer Wunsch in ihrer Frage mit.

„Ja, klar“, sagte er Fotograf.

„Danke.“

Ihre Blicke trafen sich und erweckten in dem Fotografen etwas. Vielleicht den Wunsch, seiner Sehnsucht zu folgen, es endlich zu wagen.

„Kaffee trinken? Heute abend?“ fragte er, wobei sein ganzer Körper angespannt wirkte.

Die Frau lächelte abermals. Entschuldigend, das sah er gleich.

„Ich muss mich heute Abend….“ begann die Frau und verbesserte dann ihre Worte: „Ich bin bei Ilona.“

„Geh ruhig!“ sagte Ilona, die immer noch neben ihrer Mutter saß und dem Gespräch gefolgt war. „Der Mann will dich küssen!“ Sie lachte und klatschte in die Hände. Der Fotograf wurde rot. Die Frau musste ein Lachen unterdrücken. Sie sah etwas verlegen zu Boden. Dann sah sie auf.

„Bei mir. Heute abend. 19 Uhr. Wir können uns Pizza bestellen. Nur essen und trinken. Mehr nicht. Und sie“, dabei nahm sie den Arm ihrer Tochter und streichelte ihn, „ist auch da!“ sagte sie nun bestimmt und deutete mit ihrem Blick auf Ilona.

„In Ordnung!“ war die erleichterte Antwort des bärtigen Fotografen. „Fantastisch!“

2

Die Frau fasste mit ihrer rechten Hand an ihre linke Schulter. Ihr Oberteil war schulterfrei und sie hatte nicht damit gerechnet, dass es abends so kühl werden würde.

„Es ist wunderschön hier.“ sagte Sam, der Fotograf und erschien hinter ihr auf dem Balkon. Sie sahen direkt über die Dünen bis aufs Meer, das bis hier hin zu hören war. Ein rötlicher Himmel wurde langsam dunkel. Erste Sterne erschienen zaghaft am Firmament. Weit in der Ferne sammelten sich einige Wolken.

Er rückte näher an die Frau heran und küsste sie. Sie wehrte sich nicht. Sie lies den Kuss zu, ohne ihn zu begrüssen, ohne ihn abzuwehren. Diese Unentschlossenheit irritierte Sam.

„Etwas ist falsch, oder?“ fragte er.

Sie sah besorgt auf den Tisch im Inneren der Wohnung, der vor der Balkontür stand. Kerzen waren dort noch entzündet, die Pizzapackungen lagen herum, Reste von Getränken.

„Ja.“ sagte sie. „Viel ist falsch.“

Er sah sie verletzt an, was nicht unbemerkt an ihr vorbei ging.

„Es liegt nicht an dir!“ beeilte sie sich zu erklären. „Es ist diese Welt. Alles mögliche in dieser Welt ist falsch. In der großen und auch in meiner kleinen Welt.“

Dann seufzte sie.

Sie ging hinein, setzte sich auf den Platz Ilonas, die bereits im Bett lag und schlief. Sam setzte sich auf ihren Stuhl, ihr schräg gegenüber und nahm, er konnte es kaum glauben, ihre Hand in seine Hand. Dann sah er ihr ermunternd in ihre Augen. Also erzählte sie weiter: „Dieses ganze Leben ist ein einsamer Ort.“ sagte sie. „Ich glaube nicht, das wir je ganz begreifen werden, worum es hier geht. All das!“

„Was meinst du?“ fragte Sam und es war ihr klar, dass er echtes Interesse daran hatte, sie zu verstehen. Es ging ihm um mehr als darum, sie ins Bett zu bekommen oder etwas in der Art.

Ihr Blick streifte den unordentlichen Tisch.

„Seh dir das hier an. So ist mein Leben. Ich begann einmal als Kind, das war der leere Tisch. Ich war damals noch frei von Vorurteilen. Ich hatte eine behütete Kindheit, eine herrlische Zeit voller Freude, Harmonie und …. alles war perfekt, obwohl es alles andere als das war. Es fühlte sich rund an, so rund, dass es gar nicht nötig war nachzufühlen.“

„Dann“, sagte er, „kam die Pizza.“

Sie lächelte, erfeut, dass er ihre Analogie verstehen konnte.

„Genau“, sie hörte sich kurz lachen, „dann kam die Pizza. Ich wurde erwachsen. Fragen stellten sich, erste Liebe. Ich habe gleich meine erste Liebe geheiratet.“

„Was ging schief?“ fragte er. „Alles.“ sagte sie. „Bis auf meine Tochter.“

Sein Blick zeigte Zweifel und das Bemühen darum, sich diesen nicht anmerken zu lassen.

„Doch“, bekräftigte sie erneut. „Ihre Behinderung ist mir ein Trost.“

„Ein Trost?“ fragte er ungläubig und eine leichte, warme Windböe kam von draußen herein. „Ja, so komisch das klingt. Nachdem Jerome mit mir Schluss gemacht hatte stand meine Welt Kopf. Ilona zeigte mir, dass es nicht wichtig ist, irgendwelchen Erwartungen zu genügen, sondern dass das eigentliche Geschenk das Leben selbst ist und das ich so sein darf wie ich bin.“

„Aber nun verstehe ich die Analogie nicht mehr. Wenn das hier ein Gleichnis wird, käme jetzt der unordentliche Tisch, nachdem wir unsere Pizzen gegessen haben.“

Ein weiterer Windhauch wehte herein und nahm zwei Servietten mit sich, trug sie weiter in den Raum hinein. Sie ignorierten das. Am Firmament braute sich ein Gewitter zusammen, denn es zogen, immer dunkler werdende Wolken auf.

„Ilona erweckte mich wieder zum Leben als ich mich tot glaubte, verlassen von Gott und der Welt. Nur … ich werde nie wieder einem Menschen Glauben schenken können. Ich vertraue nicht mehr. Niemandem. Außer ihr. Und das ist unfair, denn sie hätte es verdient, frei zu sein. Durch sie wurde ich wieder ein Mensch, nahm ich mich wieder als Mensch wahr. Sie ist meine Stütze, auch, wenn ich sie pflege.“

„Aber du vertraust niemandem mehr?“

Sie nickte langsam und sah betrübt in die Leere, dann folgte ihr Blick ihrer Hand, die in seiner ruhte. Sie überlegte, sie wegzuziehen, sah ihn deutlich an. Nun zog er die seine weg, worauf sie ihren Körper versteifte.

„Klingt auch nicht besonders fair, finde ich. Nur weil einer mit Dir …“ begann Sam.

„Ich habe Angst, Sam.“ schrie die Frau nun beinahe, selbst überrascht von der Gewalt ihrere Stimme. So setzte sie ihren Satz flüsternd fort: „Eine Höllenangst. Vor dem was passiert, wenn ich mich erneut verliebe. Ich habe Angst vor dem, was passiert, wenn ich erneut erlebe, was ich einmal erlebte. Wie kann ich jemandem, wie kann ich Dir Vertrauen schenken?“

Sam sah etwas hilflos in die Flamme der Kerze, die auf dem Tisch stand und brannte.

„Gar nicht.“ sagte er und wunderte sich darüber wie nüchtern das klang. „Du musst mir nicht vertrauen. Aber vielleicht erlaubst du mir, dass ich deine Hand nehme und mit dir einen Schritt in die Richtung der Brücke mache, die dich vom Leben trennt.“

Sie stand wie hypnotisiert und tief im Gedanken auf und ging wieder auf den Balkon, ohne etwas zu sagen. Der Wind frischte weiter auf und eine tiefschwarze Wolke hatte sich über dem Meer gesammelt. Sam trat hinter sie und umfing sanft ihre Taille mit seinen Armen. Sie spürte seine Nähe, die Wärme, die wohltuend war. Sie musste an die Wärme eines Feuers denken, die alles verbrennen, aber auch an kalten Winterabenden Wärme spenden konnte.

Ein Blitz fuhr vom Himmel ins Meer, welches immer aufgewühlter wurde. Wellen verdrehten und erhoben sich in der Ferne, um dann wieder auf die Wasseroberfläche zu klatschen. Es hörte sich an wie ein einziges Grollen, dass sich mit dem Geräusch leisen Donners vermischte.

„Ich weiß, dass du dir gerade überlegst, ob du das zulassen willst oder nicht.“ sagte Sam, wie er sie so hielt, „Glaube mir, wenn ich sage, dass es mir nicht anders geht. Ich habe auch Menschen verloren, die für mich alles bedeutet haben und das auf eine sehr unschöne Art. Ich weiß, dass Menschen, gerade die, die einen lieben, schmutzige, böse Dinge sagen können, die einen tief ins Herz treffen.“

Da drehte sie sich um und legte ihre rechte Hand auf seine linke Wange. Sie sah ihm in die Augen, tief und intensiv, bis sie genug Vertrauen aufbrachte, sich fallen zu lassen.

3

In den frühen Morgenstunden schien die Sonne von einem wolkenfreien Firmament durch die Scheibe der Balkontür in das Wohnzimmer der Frau. Der Tisch glänzte und war leer. Sie hatten aufgeräumt, bevor Sam gegangen war. Nun war er so leer wie eine Leinwand, so leer wie eine neue Seite in einem Tagebuch. Und in der Ferne hatte sich das Meer beruhigt.

Die Frau stand dort und lächelte. Es war ein sonniger Tag. Die Wellen ergossen sich im Atem der See über den Strand. Ihr Schal schlingerte im leichten Wind. Es war ein blass – blauer Seidenschal. Sie trug keine Sonnenrbille. Ihre Augen strahlten, ganz natürlich, ganz von selbst.

UFO 1978

Das Geräusch des laufenden Motors beruhigte ihn, wie er auf dem Rücksitz lag. Gerade acht Jahre alt. Er betrachtete die Linien, die sich durch die Heckscheibe zogen. Die Heizung, wie die Eltern ihm gesagt hatten, „falls es mal friert.“ Sein Vater saß vorne auf dem Beifahrersitz, kaute auf seinem Kaugummi, seine Mutter fuhr schweigsam. Dann und wann jedoch unterhielten sie sich, über langweiliges Zeug. Politik und über was sich Erwachsene eben so unterhielten.

Jetzt fuhren sie mitten durch einen Wald. Er konnte die hervorstehenden Äste und Zweige sehen. Als wären es Riesen, die auf ihn herabblickten. Schön war das, die Bäume so vorbeifahren zu sehen. Langsam wurde es dunkel.

„Wie lange noch?“ hatte er nun schon vor einer Weile gesagt, bevor sie bei der Tankstelle angehalten hatten. Er war auf die schmutzige Toilette gegangen, die so aussah als wäre sie seit Monaten nicht gereinigt worden. Mit spitzen Fingern und Servietten hatte er ein Brötchen gegessen, dass mit einem Klops Mett belegt war. Dazu eine Fanta und ein Bounty.

Nun lag er wieder satt auf der Rückbank. Die Eltern hatten das Radio eingeschaltet. Wenn es stimmte, was sie gesagt hatten, wäre es nur noch eine halbe Stunde bis sie zuhause wären. Oder wenigstens nicht viel mehr. Aus seiner Liege-Position konnte er ganz hoch schauen – bis in die Sterne, die jetzt so vorbei zogen wie zuvor noch die Äste der riesigen Bäume. Fern waren sie, doch wirkten sie so als wenn er sie ganz einfach so greifen könnte.

Er hockte sich jetzt hin, denn hinter ihnen waren keine Autos mehr, die mit ihren strahlenden Lichtern blenden konnten. Dort zog sich – im Kreis des Rücklichts – die Straße hin. Die unterbrochenen Striche auf der Straße schienen zu pulsieren. Bum – Bum – Bum… Oder waren es Laserstrahlen? Ja, genau! Piu! Piu! Die Striche bekamen etwas einschläferndes. Bald wäre er wieder zuhause. Seine älteren Geschwister waren dort, würden sicher wieder anfangen, ihn zu ärgern. Sie liebten es, ihn zu ärgern. Oft hatte er sich gefragt, warum das so war. Lag es daran, dass er nichts Böses wollte? Das er der Jüngste war? Er verstand es nicht. Egal. Jetzt waren da nur seine Eltern, er und die Striche auf der Straße, die sich in die Ferne zogen.

Vielleicht wäre er eingeschlafen, aber da sah er etwas, was er nicht glauben konnte. Er sah es zuerst in der Ferne, da wo ein Dorf zu sein schien. Da war ein seltsames Licht, das zu schweben schien. Es hing einfach so in der Luft, war aber zu weit entfernt, um wirklich erkennen zu können, was es war. Bestimmt nur eine optische Täuschung. Sie hatten einmal über optische Täuschungen im Unterricht gesprochen. Dann vergas er das Licht, was vielleicht daran lag, dass es plötzlich nicht mehr zu sehen war. Sie fuhren weiter. Das Geräusch des Autos, die Wärme der Heizung, die seine Eltern nun eingeschaltet hatten, ließen ihn noch müder werden. Bald wären sie zuhause…

Er legte sich wieder auf die Rückbank. Wieder blickte er in die Richtung der Sterne. Aber die Sterne waren fort. Es hatte sich wohl bezogen. Vielleicht würde es bald regnen? Nun inspizierte er die Muster der Sitzbank. Pfeile, die ineinander übergingen. Jetzt sah er wieder nach oben. Da erkannte er, dass die Sterne doch zu sehen waren, das es etwas anderes gewesen war, was ihm die Sicht genommen hatte – nicht die Wolken! Es war rundlich. Eine runde Scheibe, die über ihrem Auto schwebte! Er konnte es nicht glauben. Nun – als sie weiter fuhren – konnte er diese Scheibe im Ganzen sehen. Groß, ja, riesig und schwebend und plötzlich ging ein inneres Licht von dem Objekt aus. Er erkannte eine Art „Kuppel“. Ein grünlicher Strahl hangelte sich über die Fahrbahnmarkierungen auf ihn – auf ihr Auto – zu, wie eine zarte, vielgliedrige Hand aus Licht. Obwohl er sich sonst immer als Angsthase empfand und seine Geschwister ihn immer als „Mimose“ bezeichnet hatten, was ihn so oft verletzt und in ihm ein Gefühl der Ohnmacht ausgelöst hatte, fühlte er nun gar keine Angst. Es fühlte sich sogar erhebend an. Als wäre es genau so richtig, was hier geschah. Ganz natürlich.

Je älter er wurde, desto mehr verblasste das Ereignis jener Nacht und als er ein junger Mann war, ordnete er seine vagen Erinnerungen in dem Bereich seiner übersprudelnden Fantasie ein. Ein Teil von ihm jedoch wusste, dass das eine Lüge war. Das an jenem Abend auf dem Weg nach Hause etwas Besonderes mit ihm geschehen war. Etwas, was ihn für den Rest seines Lebens verändert hatte. Es war ein Samen in ihm gepflanzt worden. Ein Stück vom Weltraum existierte seither in ihm. Am deutlichste spürte er das immer dann, wenn er sehnsuchtsvoll in den von Sternen übersäten Nachthimmel blickte.

Der Unsichtbare

Von oben sah es so aus als wenn viele tausend Farbtupfer über eine Fläche liefen. Näher betrachtet waren es viele tausend Menschen, ein jeder mit seinen Eigenschaften, die durch die Fußgängerzone von Oldville liefen. Eine grauhaarige, gebückt gehende Frau mit Kopftuch, ein smarter Bankangestellter im Anzug, der blank polierte schwarze Schuhe trug und wirkte als wenn ihm die Welt gehöre, eine Gruppe junger Türken, die sich lautstark unterhielten, Kinder, die von ihren Eltern über einen Straßenübergang gezerrt wurden, ein Stadtstreicher, der all sein Hab und Gut in einer großen Tasche mit sich herum trug und dann war da noch Sam. Er stach nicht sonderlich aus der Menschenansammlung hervor. Selbst von weit oben hätte er eher wie ein grauer Fleck als wie ein farbiger Tupfer gewirkt.

Als Kind hatte er die Kunstfertigkeit erlernt, sich unauffällig zu verhalten. Er öffnete Türen so leise, dass man sie nicht hören konnte und wenn er in der Nähe war, fiel er nicht auf. Niemand sah auf, wenn er einen Raum betrat. Das war eine beachtliche Leistung, denn er war fast zwei Meter groß und wog über 120 Kilogramm. Sein Gesicht wies trockene, rötliche Flecken auf, er hatte Schuppenflechte. Er fühlte sich wenig attraktiv und mied die Blicke der Anderen, denen er vielleicht würde anmerken können, dass sie ihn ebenfalls für wenig attraktiv oder sogar hässlich hielten.

Tief in Sam gab es einen Abenteurer, ja, einen Romantiker. Er hatte ein gutes Herz, liebte Kinder und betrachtete den Zynismus vieler anderer Erwachsener mit Befremdung. Irgendwie fühlte er sich nie so ganz als wenn er in diese Welt gehöre. Am Meisten wurde ihm das bewusst als er wieder einmal unerwartet auf ein verliebtes Pärchen blickte, dass Hand in Hand durch die Stadt ging. Sorglos wirkten sie, wie sie da lang schlenderten, sich anlächelten, küssten und wieder weiter gingen. Dieser Anblick erzeugte in Sam schon lange keinen Neid mehr, sondern Niedergeschlagenheit, Traurigkeit. Obwohl er so viel zu geben hatte, war er schon in der Schule immer der Typ gewesen, den sich die Frauen als „besten Freund“ aussuchten, rein platonisch eben. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, das war nun mal sein Schicksal, wie er sich immer wieder sagte.

Diese Gedanken erzeugten in ihm eine unfassbare Kälte, weshalb er auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte – er arbeitete als Schreibkraft bei einem Anwalt – noch einmal kurz beim Konditor reinschaute und sich ein paar Rumkugeln gönnte. „Das ist mein Frust-Essen!“, hatte er mal seiner Mutter erzählt. „Die Leute können gut reden, wenn sie sich in einer glücklichen Beziehung befinden.“ Seine übergewichtige Mutter maßregelte ihn dann oft, weil er „so dick wie er ist, nie eine Frau finden würde.“

Vielleicht hatte sie ja recht. Andererseits war er ja sowieso unsichtbar. Da war es egal.

Die nächsten Stunden in der Anwaltskanzlei Morris verliefen relativ ereignislos. Er musste ein paar übliche Protokolle vom Diktiergerät abschreiben. In der Mittagspause hatte er entschieden im Büro zu bleiben, wobei er merkte, dass sein Rücken etwas schmerzte.

Als er das Büro verlies war es bereits dunkel. Ein leichter Regen hatte eingesetzt, es war kälter geworden. Sam entschied sich – seinem Rücken zur Liebe – zu Fuß zu gehen. Als er in die Straße einbog, die direkt zu seiner Wohnung führte, sah er, wie eine Frau von zwei Männern bedroht wurde. Sie schubsten sie hin und her. Sein Herz machte einen Satz. Wie ihm geschah, wusste er selbst nicht, aber er sah sich sozusagen zu, wie er auf die Gruppe zuging und die beiden Männder mit grollender Stimme anschrie. „Lasst sie in Ruhe! Haut bloß ab!“ rief er. Und die Männder trollten sich, Angst in ihren Augen. Die hübsche Frau hatte lange braune Haare und ebenso braune Augen. Sie lächelte Sam unwiderstehlich an, wobei sich  ihre Nase niedlich kräuselte. „Danke!“ sagte sie. „Die hätten wer weiß was mit mir gemacht.“ „Kein Problem“, sagte Sam. „Wollen wir zu mir gehen? Auf den Schrecken können sie sicherlich…“

In diesem Moment kam Anwalt Morris wieder aus der Mittagspause zurück und Sam schrak aus seiner Tragträumerei auf, wobei er ein Glas Wasser umsties. Morris erschrak. „Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie da sind!“

Als Sam wirklich heimkehrte, begegnete ihm keine Frau, die ihn bemerkt hätte. Er ging die Stufen zu seiner Wohnung hoch, nachdem er ein paar Mahnungen und Werbung aus seinem Briefkasten genommen hatte. Dann schloss er hinter sich die Tür. Er wärmte seine Suppe von gestern auf, dann lies er sich, ohne das Licht einzuschalten, in seinen Sessel fallen und blickte in die triste Dunkelheit seines Wohnzimmers.

Ein weiterer ereignisloser Tag im Leben eines Unsichtbaren.