Der Unsichtbare

Von oben sah es so aus als wenn viele tausend Farbtupfer über eine Fläche liefen. Näher betrachtet waren es viele tausend Menschen, ein jeder mit seinen Eigenschaften, die durch die Fußgängerzone von Oldville liefen. Eine grauhaarige, gebückt gehende Frau mit Kopftuch, ein smarter Bankangestellter im Anzug, der blank polierte schwarze Schuhe trug und wirkte als wenn ihm die Welt gehöre, eine Gruppe junger Türken, die sich lautstark unterhielten, Kinder, die von ihren Eltern über einen Straßenübergang gezerrt wurden, ein Stadtstreicher, der all sein Hab und Gut in einer großen Tasche mit sich herum trug und dann war da noch Sam. Er stach nicht sonderlich aus der Menschenansammlung hervor. Selbst von weit oben hätte er eher wie ein grauer Fleck als wie ein farbiger Tupfer gewirkt.

Als Kind hatte er die Kunstfertigkeit erlernt, sich unauffällig zu verhalten. Er öffnete Türen so leise, dass man sie nicht hören konnte und wenn er in der Nähe war, fiel er nicht auf. Niemand sah auf, wenn er einen Raum betrat. Das war eine beachtliche Leistung, denn er war fast zwei Meter groß und wog über 120 Kilogramm. Sein Gesicht wies trockene, rötliche Flecken auf, er hatte Schuppenflechte. Er fühlte sich wenig attraktiv und mied die Blicke der Anderen, denen er vielleicht würde anmerken können, dass sie ihn ebenfalls für wenig attraktiv oder sogar hässlich hielten.

Tief in Sam gab es einen Abenteurer, ja, einen Romantiker. Er hatte ein gutes Herz, liebte Kinder und betrachtete den Zynismus vieler anderer Erwachsener mit Befremdung. Irgendwie fühlte er sich nie so ganz als wenn er in diese Welt gehöre. Am Meisten wurde ihm das bewusst als er wieder einmal unerwartet auf ein verliebtes Pärchen blickte, dass Hand in Hand durch die Stadt ging. Sorglos wirkten sie, wie sie da lang schlenderten, sich anlächelten, küssten und wieder weiter gingen. Dieser Anblick erzeugte in Sam schon lange keinen Neid mehr, sondern Niedergeschlagenheit, Traurigkeit. Obwohl er so viel zu geben hatte, war er schon in der Schule immer der Typ gewesen, den sich die Frauen als „besten Freund“ aussuchten, rein platonisch eben. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, das war nun mal sein Schicksal, wie er sich immer wieder sagte.

Diese Gedanken erzeugten in ihm eine unfassbare Kälte, weshalb er auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte – er arbeitete als Schreibkraft bei einem Anwalt – noch einmal kurz beim Konditor reinschaute und sich ein paar Rumkugeln gönnte. „Das ist mein Frust-Essen!“, hatte er mal seiner Mutter erzählt. „Die Leute können gut reden, wenn sie sich in einer glücklichen Beziehung befinden.“ Seine übergewichtige Mutter maßregelte ihn dann oft, weil er „so dick wie er ist, nie eine Frau finden würde.“

Vielleicht hatte sie ja recht. Andererseits war er ja sowieso unsichtbar. Da war es egal.

Die nächsten Stunden in der Anwaltskanzlei Morris verliefen relativ ereignislos. Er musste ein paar übliche Protokolle vom Diktiergerät abschreiben. In der Mittagspause hatte er entschieden im Büro zu bleiben, wobei er merkte, dass sein Rücken etwas schmerzte.

Als er das Büro verlies war es bereits dunkel. Ein leichter Regen hatte eingesetzt, es war kälter geworden. Sam entschied sich – seinem Rücken zur Liebe – zu Fuß zu gehen. Als er in die Straße einbog, die direkt zu seiner Wohnung führte, sah er, wie eine Frau von zwei Männern bedroht wurde. Sie schubsten sie hin und her. Sein Herz machte einen Satz. Wie ihm geschah, wusste er selbst nicht, aber er sah sich sozusagen zu, wie er auf die Gruppe zuging und die beiden Männder mit grollender Stimme anschrie. „Lasst sie in Ruhe! Haut bloß ab!“ rief er. Und die Männder trollten sich, Angst in ihren Augen. Die hübsche Frau hatte lange braune Haare und ebenso braune Augen. Sie lächelte Sam unwiderstehlich an, wobei sich  ihre Nase niedlich kräuselte. „Danke!“ sagte sie. „Die hätten wer weiß was mit mir gemacht.“ „Kein Problem“, sagte Sam. „Wollen wir zu mir gehen? Auf den Schrecken können sie sicherlich…“

In diesem Moment kam Anwalt Morris wieder aus der Mittagspause zurück und Sam schrak aus seiner Tragträumerei auf, wobei er ein Glas Wasser umsties. Morris erschrak. „Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie da sind!“

Als Sam wirklich heimkehrte, begegnete ihm keine Frau, die ihn bemerkt hätte. Er ging die Stufen zu seiner Wohnung hoch, nachdem er ein paar Mahnungen und Werbung aus seinem Briefkasten genommen hatte. Dann schloss er hinter sich die Tür. Er wärmte seine Suppe von gestern auf, dann lies er sich, ohne das Licht einzuschalten, in seinen Sessel fallen und blickte in die triste Dunkelheit seines Wohnzimmers.

Ein weiterer ereignisloser Tag im Leben eines Unsichtbaren.

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