Die Geschichte von Glas und Stein

Ein Bahngleis. Der Wind ist kalt. Jorgos zieht sich die Regenjacke etwas höher. Nutzlos. Züge kommen und gehen. Der Regen wallt auf. Er geht in die Halle. Menschen. In allen Größen. Grobe Gesichter, die ihn erschrecken, sanfte Gesichter, die er sofort sympathisch findet. Gelbe Regenjacken, ein Rollstuhl mit einem Kind darin. Die Reifen beklebt mit Spider Man Bildern. Verzweifelte Augenpaare. Ein junger Mann fragt, ob er etwas Kleingeld bekommen könnte. Jorogs schüttelt den Kopf, fühlt sich dabei mutlos und falsch. Dann steigt er wieder die Treppen hinauf. Bahnsteig 4. Er geht zwanzig Schritte bis zu der Bank. Gestern noch saß er hier mit Anke. Alles war möglich. Die Welt aus den Angeln reißen. Seine Sehnsucht war so hoffnungsvoll gewesen.

Er musste zurück denken. Als sie auf dem Dach saßen. „Mein Herz schlägt wie verrückt. Ich liebe dich, das weißt du doch?“ fragte sie ihn und er lies sich von seiner Leidenschaft hinreißen, küsste sie. Während sie miteinander schliefen, in dieser warmen Sommernacht, ganz in der Nähe des Schornsteins auf dem Dach, hörte er in sich ein Präludium von Johann Sebastian Bach, er dachte an die farbenfrohen Bilder von Monet und die flirrenden Werke von Vincent van Gogh, aber auch Werke von Rodin kamen ihm vor Augen, während er mit seinen Händen ihren Körper liebkoste. Sie wertschätzte. Sie ehrte. Frei fühlte er sich wie ein Vogel.

„Ich muss gar nichts tun!“ antwortete er wenig später seinem Vater, doch dieser regte sich auf: „Aus dir wird nichts werden, wenn du keinen Beruf ergreifst!“ Das weiß ich doch, Papa, hätte er ihm gerne gesagt, aber er konnte nicht. Weißt du nicht, wie es ist, wenn man sich so frei und glücklich fühlt wie ein Adler, der über das Land fliegt? Wenn das wahre Leben zum Traum wird?

Doch, ich weiß es, hätte dieser vielleicht gewantwortet. Aber als ich so träumte, kam der Krieg und verwandelte meinen Traum in einen Alptraum. Aber auch er konnte nichts sagen. Außer das, was schon sein Vater gesagt hatte, weil schon ihm die Worte gefehlt hatten. Du wirst auf der Straße landen!

Ohne Geld wird man auch nicht glücklich, hört er sich zu sich selbst sagen – oder hat er es nur gedacht? Neue Züge fahren im Bahngleis ein. Neue Menschen entsteigen den Anhängern. Wieder bunt gemischt.

Er setzt sich neben einen alten Mann, der Tauben füttert. „Gestern saß ich hier“, sagt er zu dem alten Mann. Der alte Mann lächelt ihn an. Er scheint taub, aber glücklich zu sein. „Ich kniete mich vor ihr nieder und reichte ihr den Ring.“ Er fühlt eine Träne. Der alte Mann legt eine alte Hand auf seine und sieht ihn an, wie einst sein Vater, in jenen stillen, seltenen Momenten, in denen sein Blick mehr sagte als tausend Worte.

Die Uhr tickte schwere Minuten. „Vater, ich wäre gerne ein besserer Sohn und wüsste gerne jetzt, was ich dir sagen sollte, aber mir fehlen die Worte.“ „Uns fehlten immer die Worte, nicht wahr?“ „Ja.“ Tränen. „Hast du Angst?“, fragte Jorgos. Wieder keine Worte. Ein Blick jedoch und Tränen, die auch dem Vater herunterliefen. Keine Umarmung. Warum nur keine Umarmung? Abschied – als wäre es nicht für immer.

„Sie lachte nur. Sie sprach von Spaß haben und nicht gleich heiraten.“ Der alte Mann sieht ihn an. Alle dachten immer, er sei geistig verwirrt. Und nun dieser Blick. „Kennst du die Geschichte von Glas und Stein?“, fragt der alte Mann. Er verneint. Der alte Mann erzählt. „Es waren einmal ein Mann und eine Frau. Sie konnten nicht sprechen und wollten sich etwas schenken, was ihre Gefühle ausdrückt, die sie füreinander empfanden. Die Frau wählte das Glas, weil ihre Gefühle so rein waren wie das Glas. Der Mann wählte einen Stein, weil seine Liebe so unzerstörbar war, wie ein Stein. Als sie sich ihre Geschenke zeigten, begannen sie beide zu weinen, denn sie erkannten, dass sie – bei aller Liebe – nie zueinander passen würden.“

Die Züge fahren weiter. Menschen sammeln sich an roten Ampeln und strömen weiter in ihrem gigantischen Mäuselabyrinth. Das Leben rollte weiter, der Fluß floß weiter. Kinder wurden weiter gezeugt und wurden weiter erzogen, Kriege wurden weiter geführt und Frieden ausgehandelt, „Kluge Leute“ redeten weiter dumm daher und der „Dummen“ Leute Klugheit blieb weiter verborgen, blieb weiter ungehört.

Er sitzt am Grab seines Vaters und erzählt ihm alles, was er ihm immer erzählen wollte. Er weint mit ihm, er lacht mit ihm. Dann steht sein Vater vor ihm. Geh jetzt. Es ist Zeit. Suche nicht nach den verlorenen Worten, sondern finde Neue für neue Menschen. Lebe, mein Sohn!

Der wundervolle Sonnenuntergang schien den ganzen Himmel in Brand gesetzt zu haben. Jorgos streckte sich und hatte das Gefühl, seine Seele würde bis zum Himmel reichen – und weiter. Dann lies er sich in die hohen Blumen fallen, die ihn umgaben.

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