Nur ein Träumer

Märchen von Matthias Wieprecht

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte ein Bauernjunge, sein Name war Jonathan, der mit seinem Leben nichts Rechtes anzufangen wusste. Immer träumte er, Tag ein, Tag aus, davon ein Ritter in einer goldenen, glänzenden Rüstung zu sein. Er stellte sich vor, wie er gegen Drachen kämpfen und Jungfrauen befreien würde oder wie er mit der Kraft seiner Liebe diese Welt zu einem besseren Ort machen könnte.

Aber ach, das gefiel seinem Großvater, bei dem er lebte, so gar nicht. Er schlug ihn immer, wenn sein Blick versonnen in die Ferne schweifte. „Wirst du wohl aufpassen!“ mahnte er ihn dann mit strenger Stimme. Auf dem Feld nahm ihn der Großvater besonders hart ran und wenn Jonathan nach dem kargen Abendessen ins Bett fiel, fühlte er sich halb tot an. Dann schlief er schnell ein und begann wieder zu träumen.

Sein Leben bestand aus Arbeit und aus Träumen und hätte man ihn gefragt, wo er am Liebsten lebte, dann wäre seine Antwort gewesen: „In meinen Träumen!“.

Freunde hatte Jonathan schon lange nicht mehr. Damals als seine Eltern noch lebten, da hatte er ein paar großartige Freunde, aber die lebten weit weg in einer anderen Stadt und er ging davon aus, sie niemals wieder zu sehen.

Eines Tages nun starb aber sein Großvater und John, wie ihn seine Mutter stets genannt hatte, weinte bitterlich. Er fühlte sich ganz verlassen und merkte schnell – als ihm der Magen zu knurren anfing – das er alleine von Träumen nicht leben konnte. Hatte der Großvater vielleicht Recht gehabt? Waren seine Träume, wie er selbst, zu nichts Nutze? Mit diesen Fragen begann ein großer Kummer in ihm zu wachsen, während er sich bemühte, das Land seines Großvaters alleine zu bewirtschaften.

Tage und Nächte vergingen, die Sonne kreiste am Himmel um das Erdenrund viele Dutzend Male und wechselte sich mit dem Mond ab, während aus Jonathan, dem Träumer Jonathan der Bauer wurde.

Er hörte bald auf zu träumen und fühlte sich dabei als wäre er nur noch zur Hälfte lebendig, aber die Leute achteten ihn nach drei Jahren als ehrbaren Nachbarn und Bauern, als einen Mann, der zur Vernunft gekommen wäre und dem Ernst des Lebens begegnete, wie es gottgefällig sei.

So wäre sein Leben wohl weiter verlaufen wie das seines Großvaters, wäre da nicht jener schicksalhafte Tag gekommen an dem ihn jene schwarzen Ritter besuchten. Es waren fünf Ritter in schwarzer Rüstung, die allesamt stanken, weil sie sich ewig nicht gewaschen hatten. Sie hatten keine Manieren, nichts an ihnen glänzte und sie forderten von John Unterkunft und Verpflegung. Während er mit ihnen schließlich, innerlich aufgebracht, beim Abendbrot saß und zusehen musste, wie sie seinen Vorrat für das nächste halbe Jahr auffraßen – denn „speisen“ konnte man das nicht nennen, wie sie da mit spuckendem Mund aßen und beim Trinken sabberten – begann der Anführer von ihnen, Fragen zu stellen.

„Ist hier in den letzten Tagen jemand vorbei gekommen?“ fragte er und John verneinte. Aber der Mann lies nicht locker. „Solltest du wen verstecken, wirst du deinen nächsten Geburtstag nicht mehr erleben, ist das klar?“ John nickte.

Am nächsten Morgen, John hatte bei den Schweinen geschlafen und ihnen das Haus überlassen müssen, ritten sie weiter. „Endlich“, sagte er sich. „Und es ist wieder mal ein Beweis dafür, wie töricht meine Träume gewesen sind, die ich früher hatte. Ritter sind elend, nicht ruhmreich.“

Nun hätte es so bleiben können, doch diese Begegnung war nur das Vorspiel. Am Abend jenes Tages nämlich klopfte es an seiner Tür. Er öffnete sie und alles veränderte sich für ihn in diesem Augenblick. Vor ihm stand nämlich Prinzessin Amelia Lightheart. Nein, er wusste nicht, dass das ihr Name ist, aber er erkannte, dass von ihr eine Warmherzigkeit ausging, die direkt sein Herz berührte. War dieses beim Anblick der schwarzen Ritter schwer und kalt geworden, fühlte es sich nun groß und weit an.

Amelia sah ihn ebenfalls lange an und lächelte. Dann sagte sie: „Könnt ihr mich verstecken?“ Da wurde John alles klar.

„Ihr seid es? Ihr seid die Person, hinter denen die Ritter her sind?“ Die Prinzessin fasste sich an ihr Herz und sah sich um wie ein in die Enge getriebenes Reh. „Das tut mir so leid, Junge. Ich wollte Euch nicht in Schwierigkeiten bringen! Ich dachte, sie wären noch lange nicht hier angekommen, doch nun werden sie Euer Haus beobachten. Ihr seid nicht mehr sicher!“

„Ich bin kein Junge mehr!“ protestierte John. Daraufhin sah Amelia ihn abermals an. „Nein, das seid Ihr wirklich nicht mehr. Nun gut. Ich werde gehen. Bitte verratet mich nicht. Es geht um Leben und Tod!“

„Ist gut…“ stammelte John, verwirrt ob der Schnelligkeit der Ereignisse, von denen er nicht wirklich wusste, was er davon halten sollte. Schon schloss Amelia die Tür und dann hörte er sie bald davon reiten.

In der folgenden Nacht konnte John lange nicht einschlafen. Schließlich stand er auf und ging in seinem Wohnzimmer auf und ab. Da sah er plötzlich, wie sich vor ihm ein Licht formte, das immer größer wurde. Als es plötzlich verschwand, fiel ein Schwert scheppernd zu Boden. Ein blaues, gleisendes Licht ging davon aus. Der Griff war schwarz, durchzogen von silbernen Verzierungen.

Aus dem Nichts ertönte die Stimme seiner Mutter. „Traue deinem Herzen, John“, raunte sie ihm zu. „Mutter?“ rief er und und sackte auf seine Knie, während eine Träne über seine rechte Wange lief. Da war immer noch das Schwert vor ihm. Was sollte er tun?

„Oh mein Gott“, sagte er laut und begann zu weinen. „Ich habe alles getan, wie Großvater es wollte! Ich habe es geschafft ein ehrbarer Bauer zu werden. Warum prüfst du mich jetzt so? Das ist nicht Recht!“

Nun hörte er die Stimme seines Vaters.

„Heb das Schwert auf, mein Sohn. Sonst werden wir uns sehen, ehe es Zeit dafür ist!“

Da fühlte er, wie eine Welle von Angst über ihn kroch noch bevor er das Huftrappeln draußen hören konnte. Schon standen die schwarzen Ritter vor ihm.

„Wir sahen die Spuren!“ sagte deren Anführer, nachdem er die Tür zu Johns Häuschen aufgebrochen hatte. Zwischen dem Ritter und John lag immer noch das blau leuchtende Schwert.

„Hebe es auf!“ hörte er abermals die Stimme seines Vaters, die nun eindringlicher klang.

Dann griff er entschlossen zu und das Licht des Schwerts wurde so gleisend hell, dass die schwarzen Ritter ihre Augen verbergen mussten. John jedoch konnte alles gut sehen und lief hinaus, wo er sich auf eines der Ritter – Pferde schwenkte um im Galopp davon zu reiten. Wie lange war es her, dass er von Vater und Mutter das Reiten gelernt hatte?

Doch zum träumen von alten Zeiten gab es keine Gelegenheit, schon waren die schwarzen Ritter hinter ihm her, wenn auch nur vier davon, weil sie Einen wegen des gestohlenen Pferdes zurücklassen mussten.

John kannte nur den Weg zwischen dem Bauernhof seines Großvaters und der Stadt, in der er versuchte, Brot oder Eier zu verkaufen. Der Wald auf den er nun zusteuerte war ihm fremd und er sah überraschend bedrohlich aus. Die schwarzen Ritter hinter ihm sahen allerdings auch überaus bedrohlich aus.

So ritt er tief in den fremden, dunklen Wald hinein. Jeden Moment, den er tiefer in den Wald geriet, schien ihm dieser noch fremder und furchterregender zu werden. Bald klopfte ihm sein Herz bis an den Hals, aber nicht, weil es ihm so anstrengend gewesen wäre zu reiten, sondern weil seine Angst nahe daran war, ihn zu übermannen.

Da erschien ihm ein Glühwürmchen, das erst ganz klein war, sich dann aber als Fee herausstellte, die hell und lächelnd vor ihm her schwebte. Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. John traute sich nicht, etwas zu sagen, war aber sehr dankbar für die Hilfe der Fee, deren Existenz er nicht mehr anzuzweifeln wagte. Schließlich blieb die Fee an einem Punkt im Wald in der Luft stehen und deutete nach vorne in die Richtung einer Burgruine. John nickte dankbar und die Fee fuhr ihm streichelnd über eine Wange. „Träumer!“ sagte sie liebevoll und verschwand so schnell wie sie erschienen war.

Es mag nicht verwundern, dass John in der Burgruine die Pinzessin Lightheart vorfand, die sich dort versteckte. Doch die schwarzen Ritter waren ihr auf der Fährte. Weit entfernt hörte man das Knacken von Holz im Wald und das laute Fluchen der Ritter, denen möglicherweise ganz andere Wesenheiten begegneten als freundliche Feen.

„Wieso sind die hinter Euch her?“ fragte er die Prinzessin als er sie erblickte. Doch sie antwortete: „Das ist nicht Euer Kampf, Bauer.“

„John. Nennt mich John.“ antwortete Johnathan.

„Also gut, John, dies ist nicht Euer Kampf!“

„Vielleicht ist er es ja doch. Seit meiner Kindheit habe ich von all diesem hier geträumt!“

„Und vielleicht seid ihr nur ein Träumer, der lieber auf sein Leben achten solle!“ meinte Prinzessin Amelia Lightheart.

Das traf ihn tief und er fragte sie: „Meint ihr das wirklich?“

Ehe sie jedoch antworten konnte, brachen die Ritter aus dem Wald hervor und griffen an. Es ist unglaublich, wie gut John mit dem verzauberten Schwert kämpfen konnte. Als der erste schwarze Ritter am Boden lag, ergriff auch Amelia ein Schwert und sie kämpften Seite an Seite. Der Mann jedoch, den die schwarzen Ritter zurückgelassen hatten, war ihr Anführer. Dieser ritt nun auf einem scheußlichen, Zähne bleckenden, Drachen und schleuderte einen Morgenstern. Immer wieder flog er knapp an John und Amelia vorbei und versuchte, sie zu treffen. Schließlich kam er so nahe, dass er Amelia einen empfindlichen Schlag versetzen konnte, so dass sie zu Boden stürzte, mit einer klaffenden Wunde an ihrer Stirn. Johnathan konnte den Anführer der Bande zwar von seinem Drachen reißen, der davon flog, sobald sein Reiter ihn verlassen hatte, aber für den Moment war es John klar, dass diese Prinzessin, die er kaum gekannt hatte, tot war.

Kummer und Wut sorgten dafür, dass er nunmehr überwältigend und kraftvoll gegen den Anführer der Bande antrat, der wie eine Katze mehrere Leben zu haben schien. Endlich, endlich besiegte er ihn. Dann setzte er sich neben die Leiche von Amelia. Er wusste genau, was er tun musste, ohne es zu verstehen. So berührte er sein Herz und zog daraus einen goldenen Faden Energie. Das hatte er noch nie getan, außer in seinen Träumen. Er zog diesen Faden bis zu ihrem Herzen, dass prompt wieder zu schlagen begann. Die ganze Farbe, die ihrem Antlitz entwichen war, kehrte nun zurück, sie begann wieder zu atmen.

Das hatte auch ein anderer gesehen, den John gar nicht bemerkt hatte. Es war König Sorrov von Kardyll, der Vater von Prinzessin Amelia. Stolz saß er auf seinem Pferd, während unendliche Dankbarkeit in seinen Augen schimmerte.

„Du hast ihr das Leben gerettet!“ rief er und auch die Ritter in seinem Gefolge erstarrten vor Ehrfurcht vor seiner einmaligen Tat. „Wie ist dein Name, sprich!“

„Das ist John, Vater….“ sagte die Prinzessin mit gebrochener Stimme. „Er ist ein Bauer.“

Da schüttelter der Vater den Kopf.

„Von heute an wirst du Sir John Savior heißen. Willst du uns zum Hofe von Kardyll begleiten? Du wirst dort von der ganzen Tragweite deiner guten Tat erfahren. Und, wenn du willst, werde ich dich zum Ritter schlagen.“

Natürlich wollte John das.

Nach wenigen Tagen bei Hofe wurde es John und Amelia klar, dass sie füreinander bestimmt waren. John erkannte, dass es sein Schicksal gewesen war zu träumen. Nicht die Stimmen fremder Stadtbewohner, sondern seine Träume wussten immer, was in ihm steckt.

Und dann erfuhr er, dass sein Schicksal erst gerade begonnen hatte sich zu erfüllen, denn das Böse war noch lange nicht vernichtet, das Gute noch lange nicht in Sicherheit. Aber das ist eine andere Geschichte…

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