Der Junge und die Frau

 

Die dunkelhäutige Frau saß neben dem dunkelhäutigen Jungen auf einer Bank in der Straßenbahn. Ihre in Furchen gelegte Stirn sprach von kühler Betrübnis, von enttäuschter Ernüchterung, von zerstörten Träumen. Jeder Atemzug erinnerte sie quälend daran, zu leben. Jeder Herzschlag ihres warmen Herzens war wie der Hammer eines Schmiedes, der irgendetwas furchtbares schmiedete, um sie von innen heraus zu martern.

Sie war hübsch anzusehen. Ordentlich gebügelte, farbenfrohe Wäsche, die akkurat ihren Körper umhüllte und den Eindruck vermittelte, sie sei perfekt. Auch der Junge wirkte so. Seine lustige Mütze, die Augen trug, was so aussah als hätte er irgendwie einen zweiten Kopf, das fröhliche orangene T-Shirt, die kurzen blauen Hosen, das alles wirkte so normal.

Wären da auch fröhliche Augen gewesen. Seine Augen waren matt. Sein Körper mochte noch so jung sein – und er war sicher nicht älter als 9 – aber seine Augen wirkte wie die eines alten Mannes, so müde des immer wieder kehrenden schlechten Lebens. Täglich packte seine Mutter ihn unerwartet am Ohr, drehte es, geschickt so, dass es niemand sehen konnte, es „unter ihnen blieb“ und unendlich schmerzte. Dann zischelte sie fiese Gemeinheiten in sein kleines Ohr, direkt in seine müde Seele.

Die Ursache mochte ein verspäteter Zug, eine sauer gewordene Milch oder ein auf dem Boden zerscheltes, alter Senfglas sein, welches sie als Trinkglas verwendeten. Selbst wenn er einen Tag lang keinen Fehler beging und auch der Tag seine Mutter wie geschmiert lief, fiel es ihr oft ein, ihm dennoch all ihre Kälte und ihre Abscheu zu zeigen. Jeden Tag fühlte er sich schuldiger.

Seine Augen fielen, vom regelmässigen Rattern der Bahn, von der schwülen Hitze und seiner unendlichen Müdigkeit, zu. Nur einen Moment, sagte er sich. Sie wird es sowieso nicht merken. In der Tat igrnorierte sie ihn die ganze Zeit und wenn ihre Hautfarbe sie nicht unzertrennlich verbunden hätte, dann hätte man meinen können, dass sie gar nichts miteinander zu tun hatten.

Er sah seine Mutter und sich auf einer grünen Wiese. Sie lachte und legte sich auf eine ausgebreitete Decke, auf der sie auch Wassermelonen, Äpfel, Kiwi und Datteln gelegt hatte. In einem Gefäss voller geschlagenem Eis lagen mehrere Dosen Limonade. Er erinnerte sich an seinen Vater. So stattlich sah er aus. In allem was sein Vater und seine Mutter taten, spürte er die Liebe seiner Eltern. Der Vater spielte ihm den Ball zu. „Los, nimm ihn auf! Ja, genau so!“ rief er.

Gewitterwolken zogen über die grüne Wiese.

Seine Mutter stand am Küchenfenster, welches von träge dahin fließenden Regentropfen gesprenkelt war. Es donnerte. Seine Mutter hielt einen Brief in ihrer Hand und weinte.

„Jeden Tag, wenn ich dich sehe, erinnerst du mich an deinen Vater!“ spie sie ihm einmal ins Ohr. Es war kein liebevoller Gedanke, es war ein Vorwurf, der schwerer wiegen sollte, schwerer als Blei. Und er war schwer.

Das konnte man dem Jungen nun auch gut ansehen, wie er da mit gesenktem Haupt und geschlossenen Augen müde auf dem Sitz saß. Doch wo war seine Mutter geblieben? Da kam sie von der Tür her und stieß mit ihrer Faust gegen seine Schulter. Kein Wort, nur ein strafender Blick, weil er seinem Vater ja so ähnlich war.

Mutter und Sohn strömten mit einer Masse von Menschen hinaus in die anonyme Stadt, in der es stets zu laut war, um ein leises Kinderweinen zu hören.

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