von Matthias Wieprecht (c)
Mr. Jones saß am Frühstückstisch und sah matt aus dem Fenster, vor dem die zugezogene, halb durchsichtige Spitzengardine hing. Er seufzte, während er das Marmeladenbrot in seiner rechten Hand hielt, es jedoch nicht zum Mund führte. Dann legte er das Brot wieder ab.
Es war ihm schwer ums Herz.
Verdammt, dachte er, und gab sich einen Ruck. Er nahm seine Kaffeetasse und trank einen Schluck. Der recht kalt gewordene Kaffee schmeckte wie die Erinnerung an etwas, was einmal schön gewesen war. Wieder seufzte er und sackte innerlich zurück in seinen hölzernen Stuhl, den er vor langer Zeit von seiner Großmutter geerbt hatte.
So richtig Appetit hatte er nicht. So wie der Kaffee kalt war, wirkte sein Wohnzimmer – er lebte in einer 2 – Zimmer Wohnung von 55 Quadratmetern – an diesem Morgen recht farblos. Das graue Wetter draußen und der leise gegen die Scheibe klopfende Regen, der langsam zu Schnee überzugehen schien, machte das auch nicht besser.
Jetzt, da er bemerkte, dass einige Regentropfen tatsächlich halb aus Schnee zu bestehen schienen, dachte er an Weihnachten – und der Unterschied zwischen der warmen, umarmenden Erinnerung und der kalten freudlosen Gegenwart des großen Festes, tat ihm im Herzen weh. Und machte ihn noch viel schwerer. Noch war es ja eine Weile hin, so an die zwei Monate. Fast.
Während Mr. Jones so da saß, hörte er irgendwann das Ticken seiner Wanduhr, auch ein Erbstück, und das hatte etwas tröstliches. Das Ticken dieser Uhr, man musste sie gewiss aufziehen, erklang nun schon seit Generationen von Jones. Wie ein unsichtbares Korsett durchzog es alle Leben seiner Vorfahren und nun auch seines, gleichgültig, was in seinem Leben an wundervollen oder schrecklichen Dingen geschehen war. So auch jetzt, an diesem trostlosen Morgen.
Seine volle Blase vermochte es Mr. Jones zum Aufstehen zu bewegen. „Was muss, dass muss“, sagte er leise vor sich hin.
Als er zurückkehrte, nur wenige Minuten später, hatte sich etwas verändert. Er erkannte es. Der Regen war vollkommen in Schnee übergegangen. In wenigen Minuten hatte er dafür gesorgt, dass die Welt ein wenig weißer, ein wenig heller geworden war. Und der fünfjährige Junge in Mr. Jones rannte, so schnell er freilich konnte, zum Fenster und zog die Gardine beiseite.
Draußen fuhren die Autos wie eh und je, auch die Wege waren voll von Fußgängern, wie eh und je. Die Straßenbahn fuhr, alles war fast wie immer. Fast! Denn der Schnee berührte einige Menschen, das konnte er sehen. Natürlich viele der Kinder, die hier herumliefen, auf dem Weg zur Schule etwa, vielleicht zur dritten Stunde? Sie schnappten mit dem Mund nach einzelnen Schneeflocken, sie bauten aus dem wenigen Schnee, der liegen geblieben war, Schneebälle und begannen sich gegenseitig zu bewerfen. Sie lachten, sie waren voller Lebensfreude. So wunderte sich Mr. Jones nicht, dass er bei diesem Anblick lächeln musste.
Denn damals, vor so langer Zeit, liebte er das Leben auch so wie diese Kinder. Nicht wegen eines vollen Bankkontos, das er schon lange nicht mehr hatte, obwohl er in seiner Teilzeitbeschäftigung ein wenig verdiente, sondern wegen alltäglicher Freuden wie die über ein paar Flocken vom Himmel.
Auch manche Erwachsene hatten durch diese kleine Veränderung ihrer Umgebung plötzlich leuchtende Augen, wenige von ihnen strahlten übers Gesicht. Nur nicht die überzeugten Autofahrer, die waren am jammern, kaum das die Welt ein wenig vom Zauber des Schnees bedeckt worden war.
Mr. Jones zauderte. Ein Teil von ihm war tatsächlich geneigt, dem Wunsch seines inneren kleinen „Jones jr.“ nachzugeben, zum Schallplattenschrank zu gehen und Weihnachtsmusik aufzulegen.
„Weihnachtsmusik werden wir nicht auflegen“, sagte er laut vor sich hin. „Aber mal sehen…“ Nun hatte ihn eine winzig kleine Neugier gepackt, denn eine Erinnerung war zum Leben erweckt worden. „Dieses Stück habe ich schon ewig nicht mehr gehört“, flüsterte er andächtig.
Vor einer gefühlten Ewigkeit war er einmal von seinen Eltern mit in ein klassisches Konzert geschleppt worden, das totsterbenslangweilig gewesen war, bevor die Musik die Luft erfüllte. Damals, er war in seinens päten Teenager – Jahren, packte ihn diese Musik. Gespielt wurde etwas von Mozart. Seine 40. Symphonie.
Er legte also die Schallplatte auf und die Musik, die ihm so vertraut war, lies ihn vergessen, dass er da saß und nur lauschte. Erneut, wie damals, packte ihn schon der 1. Satz, der verzweifelt und lebensfroh zugleich war, der 2. Satz, der ihn träumen lies und wieder war er an die 17 Jahre alt und saß neben seinen Eltern im Konzertsaal. All die Menschen hatten sich schick gemacht, hörten aufmerksam, was gespielt wurde. Auch alte Freunde aus jener Zeit kamen ihm ins Gedächtnis zurück, Liebschaften, seine damalige „Unart“ täglich Rumkugeln zu verzehren (damals konnte er noche essen, was er wollte), der 3. Satz, der sich anhörte wie ein mächtiger Protest, so voller Kraft, dass Mr. Jones sich für einen Moment selbst erfüllt fühlte von der Kraft seiner vergangenen Jugend. Vor seinem inneren Auge nahm er es mit allen Ämtern auf, die ihm das Leben schwer gemacht hatten, mit ehemaligen Vorgesetzten, selbst mit Mitschülern seiner Kindheit, die ihn gemobbt hatten -und er triumphierte! Wie war es, im Einklang mit diser Musik, auch anders möglich? Der 4. Satz, der ihn – wegen seiner sprühenden Lebensfreude – nur lächelnd das Plattencover fallen lies, von dem er vergessen hatte, das er es in seiner linken Hand gehalten hatte, verklang so schnell und berauschend, wie er begonnen hatte.
Dann bewegte sich der Tonarm zurück in seine Position und die Mechanik im Gerät hörte auf sich zu regen. Stille herrschte wieder vor – neben dem regelmässigen Ticken der Wanduhr.
Mr. Jones Wangen hatten Farbe angenommen und seine Augen leuchteten ein wenig. Als er aufstand, zog es etwas im Rücken, aber er bemerkte es kaum. Viel kräftiger als zuvor ging er zum Fenster, zog die Gardine zur Seite und fasste den Entschluss, durch diese wunderbare Schneelandschaft, die sich ihm hier zeigte, spazieren zu gehen. Wer weiß? Vielleicht würde er sogar Essen gehen in einem schicken Restaurant.
Als er ging und die Tür hinter ihm schloss, blieb sein Wohnzimmer in graues Licht getaucht und die Stille blieb nur unterbrochen vom einsamen Tick – Tack der Wanduhr.