Kein Märchen

Mit großen, weiten Augen sah das Kind seinen Vater an. Sie waren die letzten ihrer Art und würden wohl auch nicht mehr lange leben.

„Warum habt ihr damals nichts getan?“ fragte das Kind. „Waren die Zeichen in der Welt nicht deutlich genug?“

Der Vater seufzte tief.

„Wir waren eine Gesellschaft, die von vielen Ablenkungen betäubt war. Das Wesentliche, das Leben selbst, wurde von uns schon lange für den Wert des Geldes eingetauscht. Das war einfach so.“

„Ich hätte gerne die Zeit erlebt als man noch aus den Flüssen trinken konnte.“

„Und ich hätte sie dir gerne gezeigt, diese Flüsse. Sie waren aber schon zu meiner Kindheit voller Gift, Plastik und, kurz, man hätte das Wasser auf jeden Fall abkochen müssen. Naja, ich hätte es auch dann nicht getrunken.“

„Du wolltest mir aber erklären, warum niemand etwas getan hat. Was hat eure Regierung getan, bevor es zum Krieg kam?“

Der Mann musste lachen. Es war ein bitteres Lachen.

„Sie befassten sich damit, eine große Koalition zu bilden.“

„Was meinst du damit?“

„Nun, damals waren viele Parteien in einem ungewöhnlichen Verhältnis zueinander gewählt worden und nun mussten sie sich einigen, wer regieren soll und wie. Dabei wurden sie sich nicht einig.“

„Aber bestimmt haben sie trotzdem gemerkt, dass die Spannungen zwischen den Kriegs-Entscheidern immer größer wurden, oder?“

„Es schien ihnen nichts auszumachen. Der amerikanische Präsident, der so undiplomatisch war wie kaum einer seiner Vorgänger, wenn überhaupt, reizte seine Gegner ständig. Diese Feinde hatten eine eigene, merkwürdige Weise von Macht.“

„Wie in Star Wars?“

„So ähnlich. Wenn Menschen, die von Macht besessen sind die politische Führung übernehmen, ist das sehr gefährlich.“

„Ich sehe es.“ sagte das Kind und blickte traurig über den Leichenteppich in den verstaubten Straßen. Die Häuser waren stehen geblieben, aber die Menschen waren hinweggefegt worden.

„Hat denn niemand begriffen, dass es um das Leben ging?“

„Niemand sah es als echte Bedrohung. Es lag jenseits unserer Vorstellungskraft. Niemandem haben wir den Wahnsinn zugetraut, die erste Rakete zu zünden. Niemandem. Und dann waren wir abgelenkt. Vom Alltag, vom Internet, von faszinierenden Techniken, dutzenden von Fernsehprogrammen und davon zuzusehen, wie unsere Regierung sich formen wollte.“

„Und sonst in der Welt? Niemand hat etwas gesagt oder getan?“

„Der Papst hatte gesagt, dass er wirklich Angst vor einem Krieg hätte. Nicht, dass ich die Kirche so toll fand, aber das ist jetzt auch egal. Er war der einzige an den ich mich erinnern kann. Ach so, Stephen Hawking auch. Irgendwie hörten wir nie auf die klugen, weisen Menschen. Wir lebten so wie die Gorillas im Dschungel. Wer am lautesten brüllen konnte, sich am Besten darstellen konnte, dem wurde zugehört und applaudiert, der wurde gewählt. Es gab Ausnahmen. Aber das waren eben… Ausnahmen.“

Sie schwiegen eine Weile. Dann sah das Kind ein Buch auf dem Boden. Ein Märchenbuch, Staub bedeckt. Sie nahm es, schüttelte den Staub ab und gab es ihrem Vater.

„Wenn du kannst, würdest du mir ein Märchen vorlesen?“

„Jetzt?“

„Papa, wir werden bald tot sein und ich will wenigstens noch einmal so tun als wäre alles wie früher, so normal!“

Der Vater lächelte. Der Gedanke gefiel ihm. Natürlich war es unter seinen Schmerzen und anbetracht des Todes um sie herum unmöglich so zu tun wie früher. Aber es war einen Versuch wert.

Dieser Beitrag wurde unter Kolumne, Lyrik veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert