Vertrauen

Manchmal bedeutet Leben den Mut aufzubringen,
Schritte ins Leere zu setzen,
einfach, weil man glaubt.

1

Die Frau stand dort und lächelte. Es war ein sonniger Tag. Die Wellen ergossen sich im Atem der See über den Strand. Ihr Schal schlingerte im leichten Wind. Es war ein blass – blauer Seidenschal. Sie trug eine Sonnenbrille. Alles wirkte so natürlich.

Der Fotograf rief: „Ja, noch mehr lächeln, denke an etwas schönes! Gut so. Ja, perfekt, jetzt noch etwas von der Seite!“

Die Frau setzte ihre Sonnebrille ab. Die Fotosession war vorüber. Die Falten zeigten ihre Erschöpfung. Sie lies sich auf den Sand fallen. Ilona, eine kleine dicke Frau in einem viel zu engen lila-farbenen Kleid, kam zu ihr. Ilona hatte das Down-Syndrom. Sie war ihre Tochter. „Dir fehlt etwas!“ sagte sie. „Du bist unglücklich!“ Dabei streichelte sie den Arm ihrer Mutter. Jetzt lächelte die Frau wirklich. Eine Träne rollte über ihre Wange als sie Ilona ansah.

„Du bist wunderbar.“ sagte sie zu ihrer behinderten Tochter, die zurück lächelte.

Der Fotograf kam auf die Frau mit der Sonnenbrille zu. Er trug einen schwarzen Vollbart und lange Haare. Sein Körper war schlank, wenn auch nur etwas durchtrainiert.

„Hier ein erster Druck. Das wird natürlich besser, wenn ich es bearbeitet habe.“

Die Frau nahm die Fotos in ihre Hände und sah sie desinteressiert an. Eines jedoch erfeute. Ilona hatte sich auf dem Bild im Hintergrund verirrt.

„Oh, sorry, das kommt natürlich weg.“ meinte der Fotograf.

„Kann ich es behalten?“ fragte die Frau und es schwang ein tiefer Wunsch in ihrer Frage mit.

„Ja, klar“, sagte er Fotograf.

„Danke.“

Ihre Blicke trafen sich und erweckten in dem Fotografen etwas. Vielleicht den Wunsch, seiner Sehnsucht zu folgen, es endlich zu wagen.

„Kaffee trinken? Heute abend?“ fragte er, wobei sein ganzer Körper angespannt wirkte.

Die Frau lächelte abermals. Entschuldigend, das sah er gleich.

„Ich muss mich heute Abend….“ begann die Frau und verbesserte dann ihre Worte: „Ich bin bei Ilona.“

„Geh ruhig!“ sagte Ilona, die immer noch neben ihrer Mutter saß und dem Gespräch gefolgt war. „Der Mann will dich küssen!“ Sie lachte und klatschte in die Hände. Der Fotograf wurde rot. Die Frau musste ein Lachen unterdrücken. Sie sah etwas verlegen zu Boden. Dann sah sie auf.

„Bei mir. Heute abend. 19 Uhr. Wir können uns Pizza bestellen. Nur essen und trinken. Mehr nicht. Und sie“, dabei nahm sie den Arm ihrer Tochter und streichelte ihn, „ist auch da!“ sagte sie nun bestimmt und deutete mit ihrem Blick auf Ilona.

„In Ordnung!“ war die erleichterte Antwort des bärtigen Fotografen. „Fantastisch!“

2

Die Frau fasste mit ihrer rechten Hand an ihre linke Schulter. Ihr Oberteil war schulterfrei und sie hatte nicht damit gerechnet, dass es abends so kühl werden würde.

„Es ist wunderschön hier.“ sagte Sam, der Fotograf und erschien hinter ihr auf dem Balkon. Sie sahen direkt über die Dünen bis aufs Meer, das bis hier hin zu hören war. Ein rötlicher Himmel wurde langsam dunkel. Erste Sterne erschienen zaghaft am Firmament. Weit in der Ferne sammelten sich einige Wolken.

Er rückte näher an die Frau heran und küsste sie. Sie wehrte sich nicht. Sie lies den Kuss zu, ohne ihn zu begrüssen, ohne ihn abzuwehren. Diese Unentschlossenheit irritierte Sam.

„Etwas ist falsch, oder?“ fragte er.

Sie sah besorgt auf den Tisch im Inneren der Wohnung, der vor der Balkontür stand. Kerzen waren dort noch entzündet, die Pizzapackungen lagen herum, Reste von Getränken.

„Ja.“ sagte sie. „Viel ist falsch.“

Er sah sie verletzt an, was nicht unbemerkt an ihr vorbei ging.

„Es liegt nicht an dir!“ beeilte sie sich zu erklären. „Es ist diese Welt. Alles mögliche in dieser Welt ist falsch. In der großen und auch in meiner kleinen Welt.“

Dann seufzte sie.

Sie ging hinein, setzte sich auf den Platz Ilonas, die bereits im Bett lag und schlief. Sam setzte sich auf ihren Stuhl, ihr schräg gegenüber und nahm, er konnte es kaum glauben, ihre Hand in seine Hand. Dann sah er ihr ermunternd in ihre Augen. Also erzählte sie weiter: „Dieses ganze Leben ist ein einsamer Ort.“ sagte sie. „Ich glaube nicht, das wir je ganz begreifen werden, worum es hier geht. All das!“

„Was meinst du?“ fragte Sam und es war ihr klar, dass er echtes Interesse daran hatte, sie zu verstehen. Es ging ihm um mehr als darum, sie ins Bett zu bekommen oder etwas in der Art.

Ihr Blick streifte den unordentlichen Tisch.

„Seh dir das hier an. So ist mein Leben. Ich begann einmal als Kind, das war der leere Tisch. Ich war damals noch frei von Vorurteilen. Ich hatte eine behütete Kindheit, eine herrlische Zeit voller Freude, Harmonie und …. alles war perfekt, obwohl es alles andere als das war. Es fühlte sich rund an, so rund, dass es gar nicht nötig war nachzufühlen.“

„Dann“, sagte er, „kam die Pizza.“

Sie lächelte, erfeut, dass er ihre Analogie verstehen konnte.

„Genau“, sie hörte sich kurz lachen, „dann kam die Pizza. Ich wurde erwachsen. Fragen stellten sich, erste Liebe. Ich habe gleich meine erste Liebe geheiratet.“

„Was ging schief?“ fragte er. „Alles.“ sagte sie. „Bis auf meine Tochter.“

Sein Blick zeigte Zweifel und das Bemühen darum, sich diesen nicht anmerken zu lassen.

„Doch“, bekräftigte sie erneut. „Ihre Behinderung ist mir ein Trost.“

„Ein Trost?“ fragte er ungläubig und eine leichte, warme Windböe kam von draußen herein. „Ja, so komisch das klingt. Nachdem Jerome mit mir Schluss gemacht hatte stand meine Welt Kopf. Ilona zeigte mir, dass es nicht wichtig ist, irgendwelchen Erwartungen zu genügen, sondern dass das eigentliche Geschenk das Leben selbst ist und das ich so sein darf wie ich bin.“

„Aber nun verstehe ich die Analogie nicht mehr. Wenn das hier ein Gleichnis wird, käme jetzt der unordentliche Tisch, nachdem wir unsere Pizzen gegessen haben.“

Ein weiterer Windhauch wehte herein und nahm zwei Servietten mit sich, trug sie weiter in den Raum hinein. Sie ignorierten das. Am Firmament braute sich ein Gewitter zusammen, denn es zogen, immer dunkler werdende Wolken auf.

„Ilona erweckte mich wieder zum Leben als ich mich tot glaubte, verlassen von Gott und der Welt. Nur … ich werde nie wieder einem Menschen Glauben schenken können. Ich vertraue nicht mehr. Niemandem. Außer ihr. Und das ist unfair, denn sie hätte es verdient, frei zu sein. Durch sie wurde ich wieder ein Mensch, nahm ich mich wieder als Mensch wahr. Sie ist meine Stütze, auch, wenn ich sie pflege.“

„Aber du vertraust niemandem mehr?“

Sie nickte langsam und sah betrübt in die Leere, dann folgte ihr Blick ihrer Hand, die in seiner ruhte. Sie überlegte, sie wegzuziehen, sah ihn deutlich an. Nun zog er die seine weg, worauf sie ihren Körper versteifte.

„Klingt auch nicht besonders fair, finde ich. Nur weil einer mit Dir …“ begann Sam.

„Ich habe Angst, Sam.“ schrie die Frau nun beinahe, selbst überrascht von der Gewalt ihrere Stimme. So setzte sie ihren Satz flüsternd fort: „Eine Höllenangst. Vor dem was passiert, wenn ich mich erneut verliebe. Ich habe Angst vor dem, was passiert, wenn ich erneut erlebe, was ich einmal erlebte. Wie kann ich jemandem, wie kann ich Dir Vertrauen schenken?“

Sam sah etwas hilflos in die Flamme der Kerze, die auf dem Tisch stand und brannte.

„Gar nicht.“ sagte er und wunderte sich darüber wie nüchtern das klang. „Du musst mir nicht vertrauen. Aber vielleicht erlaubst du mir, dass ich deine Hand nehme und mit dir einen Schritt in die Richtung der Brücke mache, die dich vom Leben trennt.“

Sie stand wie hypnotisiert und tief im Gedanken auf und ging wieder auf den Balkon, ohne etwas zu sagen. Der Wind frischte weiter auf und eine tiefschwarze Wolke hatte sich über dem Meer gesammelt. Sam trat hinter sie und umfing sanft ihre Taille mit seinen Armen. Sie spürte seine Nähe, die Wärme, die wohltuend war. Sie musste an die Wärme eines Feuers denken, die alles verbrennen, aber auch an kalten Winterabenden Wärme spenden konnte.

Ein Blitz fuhr vom Himmel ins Meer, welches immer aufgewühlter wurde. Wellen verdrehten und erhoben sich in der Ferne, um dann wieder auf die Wasseroberfläche zu klatschen. Es hörte sich an wie ein einziges Grollen, dass sich mit dem Geräusch leisen Donners vermischte.

„Ich weiß, dass du dir gerade überlegst, ob du das zulassen willst oder nicht.“ sagte Sam, wie er sie so hielt, „Glaube mir, wenn ich sage, dass es mir nicht anders geht. Ich habe auch Menschen verloren, die für mich alles bedeutet haben und das auf eine sehr unschöne Art. Ich weiß, dass Menschen, gerade die, die einen lieben, schmutzige, böse Dinge sagen können, die einen tief ins Herz treffen.“

Da drehte sie sich um und legte ihre rechte Hand auf seine linke Wange. Sie sah ihm in die Augen, tief und intensiv, bis sie genug Vertrauen aufbrachte, sich fallen zu lassen.

3

In den frühen Morgenstunden schien die Sonne von einem wolkenfreien Firmament durch die Scheibe der Balkontür in das Wohnzimmer der Frau. Der Tisch glänzte und war leer. Sie hatten aufgeräumt, bevor Sam gegangen war. Nun war er so leer wie eine Leinwand, so leer wie eine neue Seite in einem Tagebuch. Und in der Ferne hatte sich das Meer beruhigt.

Die Frau stand dort und lächelte. Es war ein sonniger Tag. Die Wellen ergossen sich im Atem der See über den Strand. Ihr Schal schlingerte im leichten Wind. Es war ein blass – blauer Seidenschal. Sie trug keine Sonnenrbille. Ihre Augen strahlten, ganz natürlich, ganz von selbst.

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